Schenkt man dem erfolgreichen Schriftsteller und Nobelpreisträger Ernest Hemingway Glauben, so stammt die gesamte amerikanische Literatur (und somit auch sein umfassendes Prosawerk, das ihn zum bekanntesten amerikanischen Autor des 20. Jahrhunderts machte) von einem einzigen Buch ab, das als prägender Anfang steht und dem nichts gleichkommen kann. Und dabei handelt es sich nicht um ein tiefgründiges Werk von epischer Breite, nicht um ein historisches Manifest, nicht um eine Chronik der amerikanischen Geschichte und nicht um einen sozialkritischen Gesellschaftsroman: Es handelt sich um ein Kinderbuch.
Um ein Kinderbuch jedoch, welches all die angesprochenen Facetten in sich birgt: Es kommt im Gewand eines Jugendbuches, eines Abenteuerromans daher – und ist doch viel mehr als nur das. Es ist ein Sittengemälde des Amerikas des ausgehenden 19. Jahrhunderts, es ist eine ambitionierte Gesellschaftsstudie, ein sozialkritisches Werk und gleichzeitig doch ein Buch, das mit jedem Buchstaben den Geist Amerikas atmet. Und im Mittelpunkt dieses Werkes, das die zukünftige Kinder- und Jugendliteratur prägen sollte wie kaum ein anderes Buch, steht ein kleiner Junge, dessen Pfiffigkeit und Lebensmut, dessen Kraft und Witz seit über hundert Jahren junge und alte Menschen inspirieren, ihre kleinen und großen Träume nicht aufzugeben und für sie zu kämpfen, wie es ihnen dieser gewitzte Junge beigebracht hat. Dieser Junge namens Huckleberry Finn.
„Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ erschien 1884 in England und Kanada, im Folgejahr dann in den Vereinigten Staaten. Es wurde als Fortsetzung des 1876 publizierten Buches „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ veröffentlicht. Und Tom Sawyer spielt bereits am Anfang der abenteuerlichen Geschichte eine bedeutende Rolle, als er seinem Freund Huck dabei hilft, der Vormundschaft der ihn betreuenden Witwe zu entfliehen, um sein Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Gemeinsam mit Tom Sawyers Freunden leben sie nun nach ihren eigenen Zielsetzungen und freuen sich an ihrer Freiheit, bis Huckleberry Finns Vater auftaucht und dem schönen Leben ein Ende setzt: Der gewalttätige Alkoholiker, der sich nur wenig um seinen Sohn kümmert, hat erfahren, dass dieser zu Geld gekommen ist: Er wittert seine Chance auf unverhofften Reichtum. Kurzerhand kidnappt er Huck und entführt ihn in die einsame Wildnis.
Huckleberry Finn jedoch wäre nicht Huckleberry Finn, wüsste er sich nicht aus seiner misslichen Lage zu befreien: Er entkommt dem Vater und täuscht seinen Tod vor, um ihn an der Verfolgung zu hindern. In neu gewonnener Freiheit fährt er auf einem Floß den Mississippi hinab und landet schließlich auf einer verwilderten Insel, die er kurzerhand zu seinem Domizil erklärt. Doch die eigentlichen Abenteuer beginnen erst an dieser Stelle, denn er trifft auf den schwarzen Sklaven Jim, der der Schwester der Witwe entlaufen ist, die Huck betreute. Gemeinsam mit Jim begibt sich Huck auf eine abenteuerliche Fahrt auf dem Mississippi, die das ungleiche Paar in viele verzwickte Lagen und Gefahren führt, aus denen selbst der gewitzte Huckleberry Finn oftmals nur in letzter Sekunde entkommen kann. Sklaverei, Gefangenschaft, Freiheit und Abenteuer: Die Geschichten um Huckleberry Finn entwerfen das kritische Bild einer Gesellschaft, die überholten Vorstellungen anhängt. „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ist mehr als ein Kinderbuch, mehr als eine Abenteuergeschichte: Es trägt die Botschaft von Freiheit und Unabhängigkeit in sich und zeigt den amerikanischen Traum vom Streben nach Glück, das als „pursuit of happiness“ bereits in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben ist.
In vielerlei Hinsicht finden sich in diesem Kinderbuch, das mehr als ein Kinderbuch ist, die Ansichten des Verfassers Mark Twain wieder. Mark Twain wurde im Jahr 1835 in Missouri, Florida geboren und starb im Jahr 1910 in Redding, Connecticut. Sein bürgerlicher Name war Samuel Langhorne Clemens, sein Pseudonym als Schriftsteller ist ein Begriff aus der Seemannssprache: Denn nicht nur Huckleberry Finn verbrachte einige Zeit auf dem Mississippi, auch sein geistiger Vater Mark Twain war mit den Gewässern vertraut, da er als Steuermann auf einem Dampfer tätig gewesen war.
Viele Reisen prägten den amerikanischen Schriftsteller, der vor allem durch seine scharfe Zunge und seine spitze Feder berühmt wurde, die sich auch in den Abenteuern Huck Finns bemerkbar machten: Bissige Gesellschaftskritik an den sozialen Missständen durchzieht die Schilderung des Gefälles zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiß.
Und doch bleibt die Geschichte des mutigen Huck Finn eine Geschichte, die Mark Twain berühmt gemacht hat als Autor von Abenteuergeschichten, die Spannung und Humor in sich tragen, die Kindern und Jugendlichen auch nach hundert Jahren noch atemlose Stunden der Lesefreude bescheren und auch in vielen Jahren noch junge Leser den Mississippi entlangtreiben lassen werden.